Einleitende Gedanken

Vortrag von Dr. Richard Freitag im Rahmen der Online-Vernissage

Manfred Mikl begibt sich in seinen Bildern auf die Suche nach der Schönheit der Natur: der Ästhetik der Pflanzen.

Was ist es eigentlich, das den Menschen an der Natur ästhetisch fasziniert?

Der Mensch ist ein Augentier. Fast die Hälfte unserer Wahrnehmung geschieht über den visuellen Sinn. Nicht alles erregt unsere Aufmerksamkeit. Hier ist es die neue Sicht auf die Dinge, die extreme Nahsicht, die monumentale Vergrößerung von Pflanzen und Blüten, ihre Verfremdung zu Mustern, Flächen und Zeichen. Der Blick durch das Makroobjektiv erschafft eine neue Realität. Unsere Wahrnehmung nähert sich dem inneren Organismus der Blüten. Ein Naturerlebnis der besonderen Art.

Der ästhetische Reichtum der portraitierten Pflanzen übertrifft jeden technisch Produzierbaren. Die Natur erschafft ihre eigenen Kunstwerke. Der Organismus des Lebendigen öffnet seine geheimen Pforten. Blüten leuchten in neonfarbener Künstlichkeit, Blätter schimmern in metallischem Glanz, Linien sind wie lasergezeichnet und unglaublich feingliedrig. Strukturen zerfallen und wachsen; undefinierbare und unerklärliche Formen geben Rätsel des Erkennens auf; Unfertiges und Wandelbares verbirgt sich hinter formloser Abstraktion. Zu deuten, was dargestellt ist, ist manchmal schwierig. Pflanzen erscheinen unter ungewohnten Blickwinkeln und in ungewöhnlichen Existenzformen. Kunstgenuß als Gedankenkunst. In diesem Sinne sagt der deutsche Philosoph Immanuel Kant 1790: “Je abstrakter der Gegenstand, desto höher ist die Imaginationskraft”; d.h., je weniger wir den Gegenstand erkennen, umso mehr arbeitet unsere Vorstellungskraft.

Was hat der Blütenzauber mit Mathe zu tun? Da fächern Blätter in mathematischer Präzision, Blütenstängel in geometrischer Symmetrie, Wurzeln in harmonischen Schwingungen. Viele Pflanzen folgen dem “Goldenen Schnitt” der Mathematik. Der Goldene Schnitt als die ultima Ratio, Schönheit nach Gesetzen der Proportion zu berechnen. Leonardo da Vinci hat bereits vermutet, dass sich die Anordnung von Blättern im Abstand des “Goldenen Winkels” befindet. Dem ästhetischen Konzept liegt der Nutzen für die Pflanze zugrunde. Durch die “rechte” Anordnung der Blütenblätter entsteht ein effizienterer Transport der durch die Fotosynthese entstandenen Kohlehydrate. Auch die Blattspiralen der Farne drehen genau im Winkel des “Goldenen Schnitts” auf. Im Efeublatt herrscht ebenfalls der goldenen Schnitt.

Viele der hier präsentierte Pflanzen unterstreichen das Phänomen. Von der Ästhetik der Natur ließen sich seit Jahrtausenden Künstlerinnen und Künstler inspirieren. Die antiken Baumeister mit ihrer Liebe zur Säule orientierten sich an dem geraden Wachstum der Bäume, oder die bunten Rosettenfenster mittelalterlicher Kathedralen erinnern an die radiale Symmetrie von Blüten. Die Fotografien Manfred Mikl´s machen deutlich, je tiefer man in das Innere der Natur eindringt, umso größer wird die Bewunderung vor ihrer Vielfalt, Reinheit und Formgebung. Wie der bekannteste deutsche Maler der Romantik, Caspar David Friedrich, sagte: ´bei der Betrachtung der Natur erkennt man die göttliche Schöpfungskraft´.