Einleitende Gedanken

Über das Schöne und das Hässliche

Kein Gartenliebhaber bezeichnet die ungebetenen „Gäste“ und gefürchteten Feinde seiner Pflanzen, wie Pilze, Milben, Insekten, Spanner, als schön. Sie fressen, zersägen, umspinnen oder spalten, was er mühevoll hegt und pflegt und schützt. Dennoch: Es ist nicht von der Hand zu weisen, - und das Objektiv des Fotografen beweist es: Selbst der garstigste Schädling ist oft schön, adrett, und bisweilen sogar von herrschaftlicher Eleganz. Der schöne Schädling? Ein Widerspruch? Eleganz, Farbensinn und Schönheit. Sind das nicht ästhetische Kriterien, die unsere Zivilisation seit jeher mit dem „Guten“ assoziiert? Schon Plato stellte fest, im Schönen wohnt das Gute, das Schlechte ist Hässlich. Fast die gesamte Bilderwelt der Kunstgeschichte verfährt nach dieser Regel: Schön ist Gut, Hässlich ist schlecht. Hässlich kommt von Hass. Auch die Monster, Aliens oder Verbrecher im Film sind fast immer hässlich.

Nicht so in der Natur. Hier existiert das ambivalente Verhältnis zwischen dem Schönen und Hässlichen und seiner vom Menschen geprägten moralbezogenen Bedeutung.

Neidvoll müssen wir dem schadenbringenden Wüstling, der die gute Nutzpflanze an den Abgrund drängt, außerordentlichen Schönheitssinn zusprechen. So wie wir ihn eigentlich beim buntgeschmückten Federkleid von Paradiesvögeln oder prächtig-farbigen Zierfischen kennen. „Schönheit der Natur“ gilt für alle - auch für Schädlinge, Killer und Verderber. Die Larven der Grünerlenblattwespen, grobe Wüstlinge, biegen ihre zarten Körper zu kleinen Notenschlüsseln als probten sie ein neues Musikstück für eine Gartensinfonie. Die Gallmilbe, zum Beispiel, veranstaltet kunstvolle Ballett-Pirouetten aus Ahornblättern. Die Larve der Stachelbeerblattwespe hat sich ihr schönstes Kleid für den Schwarz-Weiß-Ball angezogen und sucht sich in devoter Haltung einen Tanzpartner. Die Larve der Gelben Rosenbürstenhornwespe kommt im extravaganten Designerkleid mit schwarzen Tupfen auf weiß-gelbem Grund daher. Der Name der Larve der Maiglöckchen-Blattwespe ist so schön wie ihr Erscheinungsbild im weißen Hochzeitskleid – rein und unschuldig. Der Mode-Punker unter den Schädlingen ist die Larve des Bürstenspinners. Ein fröhlicher Freak. Feiner Bürstenhaarschnitt. Gelb, schwarz, orange eingefärbt. Die Reihe der hübsch aussehenden Schädlinge lässt sich unbegrenzt weiterführen. Da gibt es noch den lustig-verrückten Zickzackspinner, der aussieht, als sei er nicht von dieser Welt, oder die gruselige Blutzikade, die mit dem blutroten Dämongesicht auf dem schwarzen Rücken einen aztekischen Gott der Unterwelt nachahmt.

Wir lernen: schön oder hässlich hängt vom Standpunkt des Betrachters ab, und wie wir es bewerten wollen. Der große französische Dichter Voltaire spottete: „Fragt den Teufel was Schönheit ist: Er wird Euch sagen, das Schöne sind zwei Hörner, vier Pfoten mit Krallen und ein Schwanz… Fragt eine Kröte, was Schönheit ist, dann wird sie antworten, das sei ein Weibchen mit den schönen runden Augen, die aus dem kleinen Kopf hervorstehen, dem breiten platten Maul, dem gelben Bauch und dem braunen Rücken…“.

Dr. Richard Freitag